Lieferdienste: Outsourcing in ein "kriminogenes Milieu"
Das Arbeitsrecht zeigt sich zahnlos gegenüber digitaler Tagelöhnerei
Frank Steger, Oktober 2025
Im August 2025 berichteten ARD und ZDF kurz hintereinander über die Arbeitsbedingungen bei Lieferdiensten. Das Magazin "Kontraste" zeigt, wie in Berlin-Neukölln auf offener Straße rund 70 Fahrer warten: Es ist Zahltag, ein Mann verteilt Briefumschläge mit Bargeld, ohne Quittung und Abrechnung. Ein Fahrradkurier sagt: "Ich hatte keinen Vertrag. Soweit ich weiß, wurden keine Sozialversicherungsbeiträge oder Steuern bezahlt." Ein ZDF-Team von "WISO" trifft in Berlin einen Mann, der ein Subunternehmen von Uber Eats vertritt. Als erstes klärt er den Journalisten, der sich als Arbeitsuchender ausgibt, auf: "20 Prozent von deinem Verdienst gehen an uns. Das ist in Berlin das Minimum." Um anzufangen müsse er sich noch in die Fahrer-App einloggen. Dafür brauche er eine Uber Eats-ID. "Die kriegst du erst, wenn du uns 500 Euro in bar bezahlt hast".
Null Punkte von Fairwork
Was die Recherchen ergeben haben, deckt sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Rechtsverstöße bei den "Flottenpartnern" sind keine Einzelfälle. Der jüngste "Fairwork Deutschland Report 2025" bestätigt, dass sich die Arbeitsstandards in der Plattformökonomie in Deutschland seit dem letzten Bericht im Jahr 2021 deutlich verschlechtert haben. Besonders im Liefersektor verschob sich das Modell: weg von direkter Anstellung hin zur Zusammenarbeit mit wechselnden Subunternehmen. Die Folge: Die Fahrer werden in der Regel als Selbstständige beschäftigt, die pro Auftrag bezahlt werden. Der Mindestlohn wird so außer Kraft gesetzt. Arbeitsmittel wie Fahrrad, Helm und Handy müssen sie selber stellen. Die Wartezeit bis zum nächsten Auftrag wird nicht entlohnt. Lohnfortzahlung bei Krankheit? Bezahlter Urlaub? Betriebsrat? Fehlanzeige. Wer nicht spurt, wird aus der App geworfen und hat keinen Zugang zu Aufträgen mehr. Moderne Tagelöhnerei.
Im Fairwork-Rating erhält Lieferando gerade vier Punkte. Zehn Punkte gelten als Mindestmaß für "faire Arbeitsbedingungen". 2021 erhielt das Unternehmen noch sieben Punkte, Wolt ebenfalls. Im Rating von 2025 bekommen Wolt und Uber Eats keinen einzigen Punkt mehr.
Global aufgestellte Branche im Umbruch
Die Essenlieferbranche boomt. In Deutschland liegt ihr Umsatz inzwischen bei 7,4 Milliarden Euro (2024), 3,5 Milliarden waren es 2019. Uber Eats ist 2022 mit dem Subunternehmensmodell in den deutschen Markt eingetreten. Das finnische Wolt wurde 2021 vom US-amerikanischen Unternehmen DoorDash übernommen. Mittlerweile arbeitet Wolt hybrid. Das heißt: ein kleiner werdender Teil der Fahrer:innen ist festangestellt, ein wachsender Teil wird an Subunternehmen ausgelagert. Just Eat Takeaway, die Mutterfirma von Branchenprimus Lieferando, steht auf der Kaufliste von Prosus, einer niederländische Beteiligungs- und Investmentgesellschaft, die wiederum zum Tech- und Medienkonzern Naspers in Südafrika gehört. Der Kauf mit einem Volumen von 4,1 Milliarden Euro soll bis Ende 2025 abgeschlossen sein.
Anwalt spricht von einem "kriminogenen Milieu"
Die Lieferdienste wirtschaften nicht profitabel. Der Kostendruck ist, nicht zuletzt durch die Übernahmen, hoch. Das führte dazu, dass Lieferando Anfang 2025 erstmals die Auslagerung an Subunternehmen am Standort Berlin-Spandau getestet hat. Bis dahin hatte das Unternehmen seine Kuriere durchgängig direkt angestellt. Der Test verlief offenbar zur Zufriedenheit der Firma. Inzwischen beabsichtigt Lieferando, deutschlandweit 2.000 seiner 9.000 Kurierfahrer:innen zu kündigen und sie an das Subunternehmen Fleetlery weiterzureichen.
Die "Flottenpartner"übernehmen mehr und mehr die Branche. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) spricht von „Schattenflotten“, dubiosen Firmen, die sich um Recht und Gesetz nicht kümmern. Eine hat ihren Sitz in einem Laden für Handyzubehör in der Karl-Marx-Straße in Berlin-Neukölln. "Mobile World" steht über dem Geschäft. Martin Bechert, der als Rechtsanwalt viele Beschäftigte von Lieferdiensten vertritt, spricht von einem "kriminogenen Milieu", also einem zu Verbrechen führenden, sie hervorrufenden Umfeld, mit dem die Plattformfirmen zusammenarbeiten.
Migrant:innen als Rider bevorzugt
Der typische Rider, wie die Fahrradkuriere auch genannt werden, ist unter 40, männlich und hat eine Migrationsgeschichte. In der Bundeshauptstadt sind auffallend viele Menschen aus Südasien als Rider unterwegs. Aju John, ein in Berlin lebender Aktivist und Anwalt aus Indien, dessen Forschungen zu Lieferplattformen die Stiftung fördert, erklärt das in einem Interview gegenüber der Rosa-Luxemburg-Stiftung so: "Bei einem Großteil derer, die heute in Berlin für Lieferplattformen arbeiten, handelt es sich um verschuldete männliche Auslandsstudenten aus Indien, die dauerhaft in einem westlichen Land leben wollen. Inder:innen stellen heute die größte Gruppe internationaler Studierender an deutschen Universitäten."
Die Lieferfirmen stellen gerne Menschen mit unzureichenden Deutschkenntnissen und mangelndem Wissen über das System der Arbeitsbeziehungen in Deutschland ein. Die Fluktuation in der Branche ist hoch. Lieferando entlässt einen Großteil seiner Rider häufig kurz vor Ende der Probezeit. Im Durchschnitt übt nur etwa einer von fünf Ridern den Job länger als ein Jahr aus, wie eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) herausgefunden hat. Alle diese Faktoren erschweren es, dass sich Rider gegen miserable Arbeitsbedingungen wehren.
Gesucht: Menschen mit unzureichenden Deutschkenntnissen und mangelndem Wissen über das System der Arbeitsbeziehungen in Deutschland.
Bei Lieferando hat es das Lieferando Workers Collective gleichwohl geschafft, eine engagierte Betriebsratsarbeit aufzubauen. In dem Unternehmen haben sowohl die NGG als auch die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter:innen Union (FAU) Mitglieder und sind dort gewerkschaftlich aktiv. Entscheidend für diese Erfolge: Die Beschäftigten bei Lieferando sind noch in ihrer großen Mehrheit direkt angestellt. Sie gelten als Arbeitnehmer:innen und haben entsprechende Rechte. Das will Lieferando unter dem Druck der Konkurrenz von Wolt und Uber Eats jetzt offenbar ändern.
Arbeitsgericht sieht Wolt nicht in der Pflicht
Den Plattformen gelingt es, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Sie müssen bis heute keine Verantwortung für Lohnraub und kriminelles Fehlverhalten ihrer "Flottenpartner" übernehmen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nicht. Das Arbeitsrecht erweist sich als zahnlos.
Im November 2023 klagen zwei migrantische Kuriere vor dem Berliner Arbeitsgericht um ausstehende Löhne im Umfang von 3.000 Euro. Sie hätten sich über Anzeigen im Internet beworben, die den Eindruck vermittelten, dass sie für Wolt arbeiten würden. Das Einstellungsverfahren sei dann über "Mobile World", dem Handyladen in Neukölln, gelaufen. Dort hätten sie Arbeitskleidung und Zugang zur Wolt-App bekommen. Wolt verweist auf ein Unternehmen namens GW Trans und bestreitet eine direkte Anstellung. Etwaige Ansprüche aus einem Arbeitsverhältnis hätten die Rider gegenüber dieser Firma geltend zu machen. Wolt sei lediglich bereit, eine "soziale Ausgleichszahlung" von 1.000 Euro zu zahlen. Der Vorsitzende der Kammer gibt zu erkennen, dass ihm die Hinweise der Kläger nicht reichen, um eine Anstellung bei Wolt zu belegen. Er empfiehlt das Angebot anzunehmen. So geschieht es und der Prozess endet ohne ein Urteil.
Anderthalb Jahre später klagt eine junge, aus Indien stammende Kurierfahrerin – wieder gegen Wolt, wieder geht es um Lohnansprüche. Die Frau ist um 3.200 Euro geprellt worden. Sie will erwirken, dass kein Arbeitsverhältnis mit der für Wolt tätigen IMOQX GmbH besteht, sondern mit der Lieferplattform selber. Wolt, so Anwalt Martin Bechert, müsse sich die Verantwortung für seine Subunternehmen zurechnen lassen. Auch in diesem Fall erklärt das Gericht, dass es nichts machen könne. "Wir sehen, dass die Vertragsstrukturen schwer zu durchschauen sind, dennoch müssen wir aufgrund der Vorträge entscheiden", zitiert die Zeitung nd Richter Thomas Pahlen. Und der Klagevortrag genügt dem Gericht nicht. Diesmal willigt die Klägerin aber nicht in das Vergleichsangebot ein, obwohl Wolt es auf 2.000 Euro erhöht. Das Berufungsverfahren vor dem Landesarbeitsgericht wird vermutlich im Frühjahr 2026 beginnen. Es bleibt zu hoffen, dass die 2. Instanz sich umfassender mit der Auslagerung von Arbeitgeberpflichten auseinandersetzt.
Wer übt das Weisungsrecht tatsächlich aus?
Die Arbeitsgerichtsbarkeit macht es sich zu leicht, wenn sie, wie zuletzt in Berlin, ausschließlich auf die Arbeitsverträge setzt, um die Frage zu beantworten, wer Verantwortung als Arbeitgeber trägt. Sind die Plattformen tatsächlich nur reine Vermittler, wie sie behaupten, oder üben sie über ihre Apps letztlich doch das Weisungsrecht gegenüber den Ridern aus? Die "Flottenpartner" setzen ganz überwiegend die Apps der Plattformen zur Steuerung der Fahrer:innen ein. Für die Kuriere sind sie eindeutig ein Arbeitsmittel mit Weisungscharakter. Die Kontrolle über die Arbeitsausführung, welche Aufträge die Kuriere bekommen, wann und wohin sie liefern sollen, geht über die Apps allein von den Plattformen aus. Selbst wenn Wolt und Co. sich durch Subunternehmen ihrer unmittelbaren Arbeitgeberfunktion entledigen, bleiben sie wenigstens mittelbar in der Verantwortung für die Ausübung des Arbeitsverhältnisses.
Für die Kuriere sind die Apps der Lieferplattformen eindeutig ein Arbeitsmittel mit Weisungscharakter.
Aus Sicht des Fairwork Reports sind "schlechte und prekäre Arbeitsverhältnisse in der deutschen Plattformökonomie keineswegs unvermeidbar." Die Plattformen hätten erhebliche Kontrolle über die Art der Jobs, die sie vermitteln. "Arbeiter:innen, die ihre Jobs über Plattformen finden, sind letztlich immer noch Arbeiter:innen und es gibt keinen Grund, ihnen die Rechte und den Schutz zu verwehren, den Beschäftigte im formellen Sektor genießen." Laut Patrick Feuerstein, einem der Verfasser des Reports, müssen Politik und Recht den Plattformen zumuten, dass sie mindestens bestimmte Sorgfaltspflichten gegenüber den Subunternehmen haben, mit denen sie zusammenarbeiten. Für die Plattformen sei es sehr einfach, sich die Daten geben zu lassen, führt er im Podcast der Gewerkschaft NGG "Liefern am Limit" aus.
Beschäftigte digitaler Plattformen schützen
Es ist Aufgabe des Gesetzgebers die Arbeitsausbeutung durch Subunternehmer zu unterbinden, das Arbeitsrecht an die digitale Wirklichkeit anzupassen und dafür zu sorgen, dass Lieferplattformen für von ihnen eingesetzte Subunternehmen Verantwortung tragen. Die Gewerkschaften setzen einige Hoffnungen in die EU-Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit, die im Oktober 2024 vom Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union beschlossen wurde. Sie muss bis Ende 2026 in deutsches Recht umgesetzt werden.
Ziel der Richtlinie ist es, Personen, die über digitale Plattformen arbeiten, zu schützen und Scheinselbstständigkeit einzudämmen. Konkret geht es um die Einführung einer gesetzlichen Vermutung, dass Plattformarbeit als Arbeitsverhältnis ausgeübt wird, wenn Indizien für Steuerung und Kontrolle durch die Plattform vorliegen. Plattformen können die Vermutung widerlegen, müssen aber, anders als heute, die Beweislast tragen. Zugleich geht es um ein "algorithmisches Management": Plattformen müssen offenlegen, wie automatisierte Systeme Aufgaben, Bezahlung, Bewertungen oder Kündigungen beeinflussen. Entscheidungen mit gravierenden Folgen, wie etwa die Sperrung des Zugangs von einzelnen Beschäftigten zu ihren App-Accounts, dürfen nicht ausschließlich von Algorithmen getroffen werden. Plattformbeschäftigte müssen ein Recht auf Erklärung, Überprüfung und Korrektur solcher Entscheidungen bekommen.
Zielführend wäre ein Direktanstellungsgebot. Vor dem Hintergrund, dass Lieferando tausende Mitarbeiter:innen demnächst entlassen will, um sie bei Partnerunternehmen die gleiche Arbeit aufnehmen zu lassen, fordert die NGG "das Direktanstellungsgebot politisch zu regeln, um Zustände, wie wir sie jahrelang in der Fleischindustrie gesehen haben, in der Lieferbranche zu verhindern." Der niedersächsische Arbeitsminister Andreas Philippi (SPD) unterstützt die Forderung. Druck macht auch Berlins Arbeitssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD). Laut Tageszeitung taz will sie in der Arbeits- und Sozialministerkonferenz im Oktober einen Antrag für ein Direktanstellungsgebot bei den Lieferdiensten stellen.
Die Stiftung und die von ihr geförderten Online-Magazine labournet.de und labournet.tv werden die Entwicklung im Blick behalten.
Weitere Informationen
- Dossier von labournet.de zur Plattformarbeit
- Eindrückliche Aussagen von Lieferando-Beschäftigten im Video von labournet.tv anlässlich einer Betriebsversammlung in Potsdam am 29. August 2025
---
Unterstützen Sie uns! Spenden und Zustiftungen für die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt sind herzlich willkommen. Gerne stehen wir für ein persönliches Gespräch bereit. Vielen Dank!