"Demokratie beginnt im Betrieb"
Rupay Dahm über Eigentum, Verantwortung und die Kontrolle über das eigene Leben
Gerhard Klas, November 2025
"New Work" heißt das neue Schlagwort in den Management-Abteilungen. Es bezeichnet ein modernes Verständnis von Arbeit, das auf den Prinzipien Freiheit, Selbstständigkeit und Teilhabe basiert und durch Digitalisierung und Globalisierung vorangetrieben wird. Anstelle starrer Hierarchien und Anweisungen betont es flexible Arbeitsmodelle wie Homeoffice, Gleitzeit und Co-Working Spaces sowie die sinnstiftende Gestaltung der eigenen Arbeit, um persönliche Entwicklung mit beruflichem Erfolg zu verbinden. Faktisch läuft "New Work" auf eine Verzahnung von Privatleben und Erwerbsarbeit hinaus. Eine Win-Win-Situation, so heißt es, von der auch Kund:innen, Geschäftspartner:innen und Kapitalgeber:innen etwas hätten und sogar die Umwelt geschont werde. Der Titel von Rupay Dahms 568 Seiten umfassenden Praxisleitfaden, den die Stiftung gefördert hat, klingt im Vergleich zu den modernen Management-Begriffen aus der Zeit gefallen: "Selbstbestimmt arbeiten, Betriebe demokratisieren". Doch genau darin liegt seine Sprengkraft.
Die Eigentumsfrage – bei "New Work" ein blinder Fleck
Dahm, Jurist, Arbeitsrechtler und Mitbegründer eines basisdemokratischen Reinigungsbetriebs, fordert nichts weniger als eine tiefgreifende Demokratisierung der Wirtschaft – und rückt die Eigentumsfrage ins Zentrum.
"Ich finde "New Work" eigentlich total spannend", sagt Rupay Dahm, "aber was dabei nicht thematisiert wird, ist die Eigentumsfrage – denn da liegt der entscheidende Machthebel." Damit benennt er, worüber viele moderne Managementansätze schweigen: Selbstorganisation ohne Veränderung der Besitzverhältnisse bleibt Fassade. Wenn beispielsweise der Investor entscheidet, den Betrieb ins Ausland zu verlagern, "bringt einem "New Work" überhaupt nichts", so Dahm.
Yoga-Kurse, Purpose-Mission-Statements oder Teamevents sind oft nur der Versuch, das Privatleben unter die Logik der Profitmaximierung zu stellen. Die emotionale Identifikation mit dem Unternehmen macht Menschen abhängiger, nicht freier. "Wenn man dann gekündigt wird, hat man nicht nur seinen Arbeitsplatz und sein Einkommen verloren, sondern auch noch sein soziales Umfeld", erläutert Dahm.
© Dahm Rupay
Kollektivbetriebe als gelebte Alternative
Dahm spricht nicht aus theoretischer Distanz. Sein Buch ist vollgepackt mit praktischen Hinweisen und organisatorischen wie juristischen Tipps, die Genossenschaften und Kollektivbetrieben Orientierung und Hilfestellung für ihre Praxis geben. Dahm hat selbst einen demokratisch organisierten Betrieb mitgegründet, in einer Branche, in der Selbstverwaltung alles andere als verbreitet ist.
Die Reinigungskooperative Berlin besteht seit 2021. Ihre Mission: Putzen geht auch ohne Chef. Die Mitarbeiter:innen sind zugleich Miteigentümer:innen. "Alle können sich an den Entscheidungsprozessen beteiligen, sofern sie das wollen", heißt es auf der Website der Kooperative. Die Firma ist Teil der Smart Genossenschaft. Solidarität und Gemeinschaft sind nach Aussage der Smart eG ihre zentralen Pfeiler.
"Es gibt ganz viele Kollektivbetriebe im IT-Bereich", erklärt Rupay Dahm. "Da sind viele Leute hochqualifiziert und kennen sich mit unterschiedlichen Rechtsformen aus." Im Reinigungsbereich sei das anders. "In der IT-Branche kann ich in der Regel, wenn ich irgendwo angestellt bin, relativ gute Arbeitsbedingungen aushandeln", so Dahm weiter. "Im Reinigungssektor geht das nicht." Das Team der von ihm mitgegründeten Reinigungsfirma – mit einem Einheitslohn über dem Durchschnitt der Branche – beschreibt Dahm als heterogen. Menschen unterschiedlicher Herkunft, Bildung und Sprache arbeiteten dort. Nicht alle wollten gleich intensiv an der Selbstverwaltung teilnehmen. "Für einige ist es nur ein vergleichsweise gut bezahlter Job", so Dahm. Und nicht jede:r möchte oder kann Kundenanfragen beantworten, Verträge abschließen und E-Mails schreiben. "Es war mir von Anfang an klar, dass es da auch eine gewisse Art von Hierarchie geben wird", erklärt Dahm. "Ein hierarchiefreier Betrieb, das war nicht der Anspruch." Demokratie in der Arbeit, so Dahm, sei kein utopischer Zustand, sondern ein fortwährender Aushandlungsprozess – mit Konflikten, Kompromissen und stetigem Lernen. Sein Handbuch soll genau solche Prozesse befördern und Unterstützung bieten.
Selbstverwaltung fördert Gesundheit und Demokratie
"Selbstverwaltung ist ein ganz großer Schlüssel zu psychischer Gesundheit", findet Rupay Dahm. Er verweist auf die Theorie des "Control over Destiny": Wer das Empfinden hat, dass er keine Kontrolle über sein Leben hat, wird krank.
Selbstverwaltete Betriebe sind für Dahm ein Gegenmittel zu Entfremdung und Burnout. "Die Leute merken: Ich kann mein Leben gestalten, ich bin nicht nur Objekt von Entscheidungen. Das ist ein entscheidender Gesundheitsfaktor."
Doch auch hier bleibt er realistisch: Kollektive sind für ihn keine Wohlfühloasen. In seinem Buch beschreibt er zahlreiche Konfliktlinien und auch viele Lösungsoptionen dafür. "Manche Leute sind total genervt oder belastet von konfliktreichen Plena", nennt er ein Beispiel. Trotzdem sei diese Reibung gesünder als die stumme Anpassung an hierarchische Strukturen.
Über Geld, Gerechtigkeit und Einheitslohn
Eine zentrale Frage des Buches lautet: Wie soll man Arbeit gerecht entlohnen? Dahm zitiert das Beispiel der spanischen Mondragón-Genossenschaft, wo Manager höchstens das Achtfache der untersten Lohngruppe verdienen. Zur Mondragón-Genossenschaft mit ihren 80.000 Mitarbeiter:innen gehören 95 Unternehmen verschiedener Sektoren wie Maschinenbau, Bauindustrie, Einzelhandel, Versicherungen und Technologiezentren. Zum Vergleich: bei VW beträgt der Lohnunterschied das 270-Fache.
Dahms Ideal bleibt der Einheitslohn: "Jede Tätigkeit hat ihren Sinn und ihre Berechtigung. Egal, ob ich irgendwo putze oder als Anwalt arbeite." Damit rüttelt Dahm an einem Kernstück moderner Leistungsideologie.
Er weiß aber auch, dass Ungleichheit nicht an der Werkstatttür endet. Kollektivbetriebe befinden sich nicht auf einer Insel, sondern in einem kapitalistischen Marktsystem, dessen Gesetze weiterwirken. "Wenn ich weiß, als Ingenieur würde ich woanders das Fünffache verdienen, dann ist es schwierig, diesen Mitarbeiter zu halten – erst Recht, wenn er gerade eine Mieterhöhung bekommen hat", so Dahm. Nicht alle Fragen der Gerechtigkeit ließen sich innerhalb eines Kollektivs lösen.
Selbstverwaltung, das betont er in seinem Buch immer wieder, ist kein harmonisches Ideal, sondern ein Versuch, Gerechtigkeit unter ungleichen Bedingungen zu verwirklichen.
Erfolg neu denken – jenseits von Profit und Wachstum
Was bedeutet Erfolg in einem demokratisch geführten Unternehmen? Dahm unterscheidet drei Ebenen: "Aus ökonomischer Perspektive ist der Betrieb erfolgreich, wenn er ein Plus macht und die Leute davon gut leben können, aus emanzipatorischer Perspektive, wenn er möglichst hierarchie- und herrschaftsfrei ist, aus arbeitspsychologischer Perspektive, wenn die Leute zufrieden sind."
Rupay Dahm: "Wie demokratisch kann eine Gesellschaft sein, wenn ihre Wirtschaft autoritär organisiert bleibt?"
Diese Mehrdimensionalität ist programmatisch. Erfolg misst sich für Dahm nicht allein am Umsatz, sondern auch an Zufriedenheit, Selbstbestimmung und Solidarität. Und das funktioniert nicht nur in kleinen Einheiten.
Als Beispiele zählt er zahlreiche Betriebe auf, die er auf Recherchereisen besucht hat, wie etwa das Krankenhaus Spremberg in Brandenburg. Bis zur jüngsten Krise kleiner Krankenhäuser gehörte die Klinik bei Cottbus rund 25 Jahre lang zu 51 Prozent einem Förderverein, in dem 80 Prozent der Mitarbeiter:innen Mitglieder sind, und zu 49 Prozent der Kommune. Eine bis dato einmalige Konstruktion in Deutschland. Die Patientenzufriedenheit liegt in dem Krankenhaus bei über 95 Prozent. Das hänge auch mit dem Personalschlüssel zusammen: Die Belegschaft habe zwischenzeitlich "tatsächlich auf Lohn verzichtet, um mehr Personal einzustellen, damit die Leute nicht so überarbeitet sind wie in anderen Krankenhäusern", so Rupay Dahm.
Gewerkschaften und Betriebsräte weiter nötig
Selbstverwaltung ersetzt für Dahm nicht kollektive Vertretung. Konflikte blieben auch in Betrieben wie dem Krankenhaus Spremberg nicht aus. Auch in Kollektivbetrieben brauche es Gewerkschaften, "gerade wenn Belegschaften versuchen, Betriebe zu übernehmen oder in andere Eigentumsformen zu überführen".
Die Rolle von Betriebsräten und Gewerkschaften sei jedoch tendenziell eine andere: In selbstverwalteten Strukturen gehe es weniger um Arbeitskämpfe als um gegenseitige Unterstützung. Betriebsräte seien besonders in größeren Genossenschaftsbetrieben mit gewählten Geschäftsführungen sinnvoll – als einem am Mitarbeiterwohl orientierten Gegenpol zur wirtschaftlich denkenden Geschäftsführung. Demokratie im Betrieb, so Dahms Credo, "lebt von Vertrauen ebenso wie gegenseitigem Respekt bei unterschiedlichen Positionen, Transparenz und eingeübten Aushandlungsprozessen".
Demokratie beginnt am Arbeitsplatz
Rupay Dahm stellt in seinem Buch eine für das Kapital äußerst unbequeme Frage: Wie demokratisch kann eine Gesellschaft sein, wenn ihre Wirtschaft autoritär organisiert bleibt?
Sein Praxisleitfaden ist ein Aufruf zur Verantwortungsübernahme – bei Eigentum, Entscheidungsprozessen und Arbeitsgestaltung. "Selbstverwaltung ist kein Selbstzweck. Sie soll dazu dienen, dass die Leute glücklich und zufrieden sind. Wenn sie merken, dass sie nur dann glücklich sind, wenn man mehr Hierarchie hat, dann sollten sie frei sein, das zu entscheiden - solange sie immer das Recht behalten, die Hierarchie auch wieder abzuschaffen."
Dahm verspricht keine perfekte Welt, aber eine, in der die Menschen ihre Arbeit wieder als ihr gemeinsames Werk begreifen können – selbstbestimmt, solidarisch, demokratisch.
Weitere Informationen
Praxisleitfaden
Rupay Dahm: Selbstbestimmt arbeiten, Betriebe demokratisieren, Ein Praxisleitfaden für selbstorganisierte Unternehmen, ISBN: 978-3-98726-127-5, Softcover, 568 Seiten, oekom, München, 2024
Leseprobe | Bestellung direkt beim Verlag
Beratung zur Selbstorganisation
Rupay Dahm und Ingo Frost unterstützen selbstorganisierte Projekte, Kollektivbetriebe, Genossenschaften und Wohnprojekte – sowohl bei der Gründung als auch bei der Weiterentwicklung. Die Beratung hilft dabei, funktionierende demokratische Strukturen zu schaffen, rechtliche Risiken zu vermeiden und Visionen sowie Prozesse weiterzuentwickeln. Mehr: kollektivberatung.de
"Ohne Chefs – Demokratie bei der Arbeit" | Kinostart am 6.11.2025
Von Mario Burbach | Gefördert von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt
Nur wenige Menschen können sich eine Arbeit ohne Chef vorstellen. Dabei gibt es eine ganze Reihe von Betrieben, die ganz ohne Chefs auskommen. In dem Dokumentarfilm erzählen Menschen, wie sie die Kontrolle über ihr Erwerbsleben zurückgewinnen. "Ohne Chefs" zeigt die Personen hinter der Idee von einer "Demokratie bei der Arbeit“.
Spielorte von A-Z
★ Berlin, fsk Kino (05.11.2025)
★ Berlin, Kino Zukunft (06.11.2025-12.11.2025)
★ Bochum, endstation.kino (06.11.2025)
★ Bremen, City46 (12.12.2025, in Kooperation mit der FAU Bremen)
★ Celle, Kino achteinhalb (24.11.2025)
★ Dresden, Zentralkino (06.11.2025, 19.30 Uhr, Dresden-Premiere mit Gästen, in Kooperation mit der Dresdner Kollektivvernetzung)
★ Dresden, Hole of Fame (14.11.2025, 18.30 Uhr, Rahmenprogramm mit Gästen, in Kooperation mit der Dresdner Kollektivvernetzung)
★ Gießen, Brücke (Globale Mittelhessen) (06.11.2025)
★ Hamburg, 3001 Kino (19.11.2025, in Kooperation mit dem Quijote Kaffee Kollektiv)
★ Kassel, Filmladen (11.02.2026, in Kooperation mit den Kasseler Kollektiven)
★ Kassel, LiZA (26.02.2026)
★ Lollar, Kulturbahnhof (Globale Mittelhessen) (05.11.2025)
★ Lübeck, KoKi (11.11.2025)
★ Mannheim, ASV (20.12.2025, mit Gästen und Q&A)
★ Marburg, Capitol (Globale Mittelhessen) (29.10.2025)
★ Rendsburg, Schauburg (06.11.2025-12.11.2025)
★ Wien (A), WUK (10.11.2025, in Kooperation mit attac Wien)
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