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Plakatausschnitt Musical "Baha und die wilden 70er" | Zeichnung: Memo Tembelçizer | sanat-ensemble.de
Plakatausschnitt Musical "Baha und die wilden 70er" | Zeichnung: sanat-ensemble.de - Memo Tembelçizer

Von der Fabrikhalle auf die Bühne

Der Ford-Streik von 1973 als furioses Musical

Christine Ziegler, Dezember 2025

Für mich als Sekretärin der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt war es ein ungewöhnlicher Antrag, der vor rund anderthalb Jahren auf meinem Schreibtisch landete. Eine meiner Aufgaben ist es, Projektanträge vorab auf ihre Förderfähigkeit zu prüfen. Ich war hin- und hergerissen: Ein Musical  das hatte die Stiftung noch nie unterstützt.

Doch dass hier Menschen jenseits klassischer Bildungsformate ihr Anliegen künstlerisch ausdrücken wollten, machte mich neugierig. Es sprach mich unmittelbar an. Schließlich war auch der Vorstand überzeugt – und beschloss die Förderung.

Hin und wieder besuche ich Veranstaltungen, die von der Stiftung gefördert werden, um mir ein Bild zu machen. Anfang Oktober ging es für mich von Berlin nach Köln  zur Uraufführung des Musicals. Lucky me!

Zeitgeschichte im Theater

Der Saal des Kölner Comedia-Theaters füllt sich rasch. Die Luft knistert, das Publikum ist bunt gemischt – Kölner:innen jedweder Herkunft, von der Eifel bis vom Schwarzen Meer. Als sich der Vorhang hebt, wird Geschichte sofort lebendig.

"Baha und die wilden 70er", das Musical des Sanat Ensembles, bringt den legendären Streik in den Ford-Werken auf die Bühne – verwoben mit dem Zeitgeist von damals: Hippies, sexuelle Freiheiten, Studierendenbewegung. Was 1973 als spontaner Aufstand begann, ist fünfzig Jahre später zu einem Teil der Erinnerungskultur geworden – einem, der migrantische Geschichte in Deutschland sichtbar macht und dorthin holt, wo sie hingehört: in die Mitte der Gesellschaft.

Ein vergessener Streik

Was war geschehen? Der Streik begann, nachdem 300 Kolleg:innen fristlos entlassen worden waren – viele von ihnen, weil sie verspätet aus der Türkei zurückgekehrt waren. Eine Reise in die Türkei war damals eine strapaziöse Angelegenheit, meist eine lange Fahrt mit dem Auto, deren Rückkehrdatum schwer planbar war. In den Jahren zuvor war es den Arbeitern immer erlaubt gewesen, den Ausfall durch Zusatzschichten auszugleichen. Doch in jenem Jahr entschied das Management anders.

Der Streik bei Ford 1973 war ein Kampf um die Würde migrantischer Arbeiter:innen und ihre Rechte in einer Gesellschaft, die sie oft nur als Fremde wahrnahm.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Aus Empörung wurde Protest – und aus Protest einer der bedeutendsten Streiks der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Arbeiter forderten höhere Löhne, mehr Urlaub, langsamere Bandgeschwindigkeiten – und sie kämpften gegen Diskriminierung.

Vor allem nachts wurde die Werkshalle zur Bühne: Die Werksbesetzer sangen und tanzten – und der Streik gewann immer mehr Dynamik. Am 27. August 1973, dem dritten Tag, unterstützten erstmals auch 12.000 Arbeiter der Frühschicht den Ausstand. Die Streikenden, die dem Betriebsrat und der Vertrauenskörperleitung der IG Metall zunehmend misstrauten, wählten ein eigenes Streikkomitee, angeführt von einer schillernden Persönlichkeit, deren Name in die Geschichte eingehen sollte: Baha Targün, nach dem das Musical benannt ist.

Streikende Beschäftigte der Ford-Werke in Köln-Niehl August 1973 | Foto: imago-images.de - Klaus RoseDie tieferen Beweggründe der Arbeitsniederlegung erläutert eindrücklich der Sozialwissenschaftler Kemal Bozay, der das Stück mit entwickelt hat: Seit 1961 hatten türkische Arbeiter:innen in den Kölner Ford-Werken hart gearbeitet. Sie machten 1973 bereits ein Drittel der gesamten Belegschaft aus. "Doch ihr Platz in der Fabrik", so Bozay, "war ein Ort der Unterdrückung, Diskriminierung und der Fremdbestimmung. Sie zählten zu den Hilfsarbeitern in der Endmontage, waren den niedrigsten Lohngruppen zugeordnet und im Betriebsrat so gut wie kaum vertreten." Und weiter: "Es war eine Form der Isolation, in der die türkischen Arbeiter am Rand standen, gezeichnet von der täglichen Mühsal und dem unsichtbaren Stigma des "Gastarbeiters", beschreibt er die Situation jener Zeit. "Für die streikenden Arbeiter war es ein Kampf um mehr als nur Löhne und Arbeitsbedingungen – es war ein Kampf um ihre Würde und ihre Rechte in einer Gesellschaft, die sie oft nur als Fremde wahrnahm."

Gewalt und Verdrängung

Am fünften Tag des Streiks lehnten die Streikenden ein völlig unzureichendes Kompromissangebot der Betriebsleitung ab. Es kam einer Verhöhnung ihrer Anliegen gleich. Daraufhin formierte sich eine "Gegendemonstration" – angeführt von Vorarbeitern, Werkschutz, Streikbrechern aus Belgien und Zivilpolizisten. Unter dem Einsatz von Knüppeln und Schlagringen schlugen sie den Streik mit brachialer Gewalt nieder. Die Anführer des Streiks wurden verfolgt und verhaftet, Baha Targün schwer verletzt und später in die Türkei abgeschoben. Auf der Bühne werden dazu Filmausschnitte und Zeitungsseiten eingeblendet – darunter BILD-Schlagzeilen wie: "Übernehmen die Gastarbeiter die Macht?" oder "30 Verletzte – Deutsche Arbeiter kämpfen ihre Fabrik frei".

Musical trifft Erinnerungskultur

Chor der Frauen | Foto: Günay UluntuncokSchauspiel, Gesang und Zeitzeug:innenberichte verbinden sich zu einem vielstimmigen Mosaik. Die Geschichten reichen über die Fabriktore hinaus. Sie erzählen auch vom Alltag der Familien, von Kindern, die ihre Eltern über Jahre kaum sahen.

Zwei Rentner, die damals mitgestreikt hatten, stehen selbst auf der Bühne. Eine Unterstützerin berichtet, wie sie Flugblätter und Getränke am Streiktor verteilte.

Ein Frauenchor zieht Verbindungen zu anderen Arbeitskämpfen – etwa zu Pierburg, wo Frauen erfolgreich gegen sogenannte Leichtlohngruppen kämpften. Das Musical würdigt ihren Kampf als Inspiration für die Kollegen bei Ford. 

Eine Brücke zwischen den Generationen schlägt der Rapper Eko Fresh, der den Titelsong "Eine Mark mehr für alle!" für das Musical geschrieben hat. Er ist der Sohn des künstlerischen Leiters des Ensembles und Muscial-Autors Nedim Hazar. 

 

Das Musical ist ein Lehrstück für die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Denn migrantische Geschichte bleibt oft unsichtbar – wie sich in diesem Jahr erneut zeigte, als Ford-Beschäftigte im Frühjahr die Arbeit niederlegten. Fast alle Medien, auch die Tagesschau, berichteten, es habe noch nie einen Streik bei Ford in Köln gegeben. Dazu beigetragen hatte auch der geschichtsvergessene Blick der IG Metall. "Der erste Streik nach 100 Jahren bei den Ford-Werken Köln war für alle Beteiligten beeindruckend", schrieb die Gewerkschaft in ihrer Presseerklärung vom 16. Mai 2025. Geschichtsvergessenheit kann laut werden.

Es gilt, Kämpfe gegen Unterdrückung nicht gegeneinander auszuspielen. Ich denke da an die Aussage der US-amerikanischen Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde: "Es sind nicht unsere Unterschiede, die uns trennen, sondern unsere Unfähigkeit, sie zu erkennen, anzunehmen und zu feiern". Das Musical tut genau das: Es zeigt Verbindungen zwischen verschiedenen Kämpfen um Gleichberechtigung – ohne sie zu hierarchisieren.

Ein Stück, das bleibt

Es ermutigt mich, dass die Produktion im November auch im Hambacher Schloss gastierte – und so einen Platz in der Erinnerungskultur unseres Landes gefunden hat. Noch ist offen, wann und wo "Baha und die wilden 70er" außerdem gezeigt wird. Das Ensemble verarbeitet gerade den großen Erfolg der Premiere und plant zunächst weitere Aufführungen in Köln. Auftritte in anderen deutschen Städten werden aber folgen.

Mit dem Musical wird Geschichte auf eine Weise erzählt, die berührt, aufklärt und verbindet.

Bis dahin lohnt sich ein Blick auf die großartige Website des Sanat Ensemble zum Musical. Hier finden sich neben den Angaben zum Stück eindrucksvolle Analysen von dem bereits zitierten Kemal Bozay und dem Migrationsforscher Serhat Karakayalı – zwei Stimmen, die den Streik und seine Bedeutung tiefgreifend beleuchtet haben.

Ich bin froh, die Reise von Berlin nach Köln unternommen zu haben. Mit dem Musical wird Geschichte auf eine Weise erzählt, die berührt, aufklärt und verbindet. Auch ich habe zum Schluss den Refrain mitgesungen und im Rhythmus geklatscht. Der "wilde" Ford-Streik von 1973, das wird in der Vorstellung deutlich, war ein Schlüsselmoment migrantischer Selbstermächtigung – und ein wichtiges Kapitel deutscher Arbeitsgeschichte.

Zum Nachlesen, Nachhören und Nachschauen

Die Musical-Website des Sanat Ensemble: "Baha und die wilden 70er"

Das Programmheft – Ein Musical über den Ford-Streik 1973

"Wir hörten auf "Gastarbeiter zu sein" - Audiovisuelle Sammlung des Dokumentationszentrums und Museums über die Migration in Deutschland

ARD-Audiothek: Interview "Ein Meilenstein in der türkischen Migrationsgeschichte" mit Nedim Hazar

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